Tabuisierte Familiengeheimnisse

Qualitätskriterien im Präventionskontext Kinderschutz

Abschlussarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magistra der Psychotherapiewissenschaft

an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien

eingereicht von Marion Luksch

Wien, im April 2015

Vorwort

Eine prozessorientierte strategische Vorgangsweise für die Hilfeleistung bei sexuellem Missbrauch habe ich in meinen Manual (Luksch, 2006) für die Arbeit in Kinderschutzzentren verfasst. In diesem Manual wies ich auf die Wichtigkeit hin, neben dem physischen Schutz vor Gewalt auch Gefühle der Angst, Scham und Schuld im Hinblick auf das verborgene innerfamiliäre Geschehen bei Schutzinterventionen zu berücksichtigen. In „Kinderschutzschulungen“, methodisch als Präventionsprojekte für Kinder, Eltern und Lehrer aufbereitet, habe ich diese Vorgangsweise im Umgang mit Geheimnissen aufgenommen.  Die Funktion der Affekte stellt hierbei den zentralen sinnstiftenden Wert für die Kommunikation über Gewalt dar.

Gewaltpräventionsmaßnahmen werden durchgeführt, um dem Machtmissbrauch durch Erwachsene entgegenzuwirken. Das implizite Ziel von Präventionsmaßnahmen ist es,  auf bereits traumatisierte Kinder aufmerksam zu werden. Gewaltprävention wirkt bei Kinder aufdeckend, das Jugendwohlfahrtsgesetz § 37 ruft bei Kindeswohlgefährdung durch Gewalt unterschiedliche Berufsgruppen zur Schutzintervention auf, der konkrete Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung wird dem Jugendamt mitgeteilt.

Die Mitteilungspflicht § 37 Jugendwohlfahrtsgesetz (1) und (3) lautet:

„ (1) Behörden, Organe der öffentlichen Aufsicht sowie Einrichtungen zur Betreuung oder zum Unterricht von Minderjährigen haben dem Jugendwohlfahrtsträger über alle bekannt gewordenen Tatsachen Meldung zu erstatten, die zur Vermeidung oder zur Abwehr einer konkreten Gefährdung eines bestimmten Kindes erforderlich sind.“

„ (3) Soweit die Wahrnehmungen der in der Jugendwohlfahrt tätigen oder beauftragten Personen, die auf Grund berufsrechtlicher Vorschriften zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, drohende oder sonstige bereits eingetretene Gefährdungen des Kindeswohles betreffen, sind diese zur Mitteilung an den Jugendwohlfahrtsträger berechtigt, soweit die Wahrnehmungen Minderjährige betreffen und die Information der Abwendung oder Beseitigung der Gefährdung dient. Weitergehende Ausnahmen von bestehenden Verschwiegenheitspflichten bleiben unberührt.“ (Jusline, 2015)

Diese Berufsvorschrift gilt z.B. für Angehörige eines medizinischen Grundberufes, wenn der konkrete Verdacht vorliegt, dass Minderjährige mißhandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell mißbraucht wurden und wenn, trotz angebotener Hilfe, das konkrete Risiko der Kindeswohlgefährdung in der Familie dennoch unverändert bestehen bleibt.

Die Mitteilungspflicht § 37 Jugendwohlfahrtsgesetz (2) lautet:

„Ergibt sich für in der Begutachtung, Betreuung und Behandlung Minderjähriger tätige Angehörige eines medizinischen Gesundheitsberufes sowie für in der Jugendwohlfahrt tätige oder beauftragte Personen, die auf Grund berufsrechtlicher Vorschriften zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, der Verdacht, daß Minderjährige mißhandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell mißbraucht worden sind, haben sie, sofern dies zur Verhinderung einer weiteren erheblichen Gefährdung des Kindeswohles erforderlich ist, dem Jugendwohlfahrtsträger Meldung zu erstatten.“
(Jusline, 2015)

Diese Schutzintervention ist eine schriftliche Mitteilung an das Jugendamt und beinhaltet für Psychotherapeuten neben den Fakten die inhaltliche Beschreibung von zwei differenzierten Aspekten:

  1. die Beschreibung des emotionalen Milieus des Kindes
  2. die darauf basierende, bereits angebotene Hilfe für Eltern

Daraus ergibt sich die Situation, die mich zu dieser Literaturarbeit bewogen hat und meine Fragestellungen stehen der Mitteilung JWG § 37 voran. Da Kinder Gewalt und andere gefährdende Erlebnisinhalte meist verbergen (hohe Dunkelziffer von Gewaltopfern) bzw. in der Öffentlichkeit vorerst nur ansatzweise (im Rahmen von Präventionsprojekten) offenbaren, führt dies zu einer paradoxen Situation:

Wie kann über etwas, das der Öffentlichkeit verborgen bleiben soll, kommuniziert werden? Wieso ist die Dunkelziffer in diesem Bereich so hoch, obwohl das Wissen der Professionisten über Gewalt vorhanden ist und Opferschutzmaßnahmen immer besser werden? Wobei benötigen Kinder professionelle Unterstützung um tabuisierte Familiengeheimnisse zu offenbaren?

  • Wie kann zum Schutz vor Gewalt interveniert werden, solange das emotionale Problem des Kindes noch geheim ist? Was ist das emotionale Problem des Kindes und wie kann es für die Schutzintervention entschlüsselt werden?
  • Wie spricht man mit Kindern über Gewalt? Wie kann die Problematik der Kindeswohlgefährdung im Hinblick auf Geheimhaltung der Gewalt und der damit verbundenen Gefühlen offenkundig werden?
  • Wie und von wem kann die Kindeswohlgefährdung durch Gewalt beurteilt werden? Wer kann zum Schutz der Kinder vor Gewalt die Verantwortung für diesbezügliche Hilfeleistung um den physichen und psychischen Schutz übernehmen?
Familiengeheimnisse